Am 21. April 1994 jährte es sich zum 50. Mal, dass die ersten KZ-Häftlinge aus dem KZ Mauthausen ins Melker Außenlager überstellt wurden. Alexander Hauer und Michael Garschall wollten dem in einer angemessenen, vorerst einmaligen Art und Weise, Rechnung tragen. Denn bis dahin war das Erinnern, Gedenken und eine die Gegenwart beleuchtende gesellschaftspolitische Diskussion in Melk nicht verankert. So entstand „MERKwürdig – eine Veranstaltungsreihe wider Gewalt und Vergessen“, eigentlich nur einjährig angedacht.
Die Resonanz in der Bevölkerung, das Kennenlernen von Überlebenden bzw. deren Angehörigen und den Angehörigen der Opfer, die offensive Bereitschaft vieler Melker*innen, sich vielfältig diesem Themenkomplex zu stellen und die Debatte in das Heute zu überführen, aber auch die so tragischen Umstände der Bombenanschläge von Oberwart und Stinatz im Jahr 1995 verlangten eine zumindest einmalige Fortsetzung. Daraus sind inzwischen bereits fast 30 Jahre Gedenkarbeit geworden – oft mit sehr unterschiedlichen Herangehensweisen. Denn von Anfang an näherte sich der Verein den Fragestellungen vor allem auch mit Mitteln der Kunst und mit Begegnung. Dabei sind verschiedenste Veranstaltungen entstanden wie etwa die Konzerte „Künstler wider Gewalt und Vergessen“ (1994), gojim – jiddische Musik (2000), „Kultivierte Barbarei: Musik im KZ“ von Paul Schuberth und Elisa Lapan (2022) oder das jährlich stattfindende Adventsingen „MarandJosef“ in Kooperation mit dem Landesklinikum Melk. Auch Filmvorführungen zählen zu unserem Repertoire: Neben thematisch nahen Filmen wie „Nacht und Nebel“ im Zuge der Gedenkveranstaltung und Podiumsdiskussion mit ehemaligen KZ-Häftlingen (1995), gab es auch immer wieder Zugänge von lokalen Filmemacher*innen wie etwa mit der Vorführung von „Endphase“ (2023), der das Massaker an 228 jüdischen Zwangsarbeiter*innen thematisiert. Auch das Theater war von Beginn an ein wichtiger Ausdruck: Zu nennen ist hier etwa „Die weiße Rose“ (2001) oder „Hanni – Von der kleinen Leute Größe“ (2022). Humorvolles mit einer Show von Heinz Zuber als Clown Enrico (April 1994) oder einem Kabarett von Josef Hader (Mai 1994), fand ebenso seinen Platz wie viele andere kreative Zugänge wie etwa der Schreibwettbewerb „Wo, wie finden wir Utopia? Wann?“ (1998), der bildnerische Schüler*innenwettbewerb zum Thema „Unsinn und Unfug“ (1999), das Verteilen von weißen Rosen in Melk (2001). Darüber hinaus zeigen Buchpräsentationen, Gedenkwanderungen und Lesungen wie breit aufgestellt unsere Veranstaltungen waren und sind. Derart will der Verein den Spagat zwischen Geschichte und Gegenwart, Gedenken und Utopien versuchen. Das Thema Zivilcourage bildet dabei einen zentralen Ausgangspunkt.
Im Herbst 2017 wurde ein Meilenstein für eine Umstrukturierung und Weiterentwicklung gelegt. Mit Unterstützung des Landes NÖ, der KZ-Gedenkstätte Mauthausen/Mauthausen Memoral und der Stadtgemeinde Melk konnte die erste hauptamtliche Stelle und somit die Grundlage für ein "Zeithistorisches Zentrum" in der Region Melk geschaffen werden. Diese Verbreiterung des Tätigkeitsspektrums, die sich vor allem durch wissenschaftliche Arbeit und vielfältige neue Projekte im breiten Feld der Public History auszeichnet, brachte auch eine Umbenennung des Vereins mit sich, der seit 2020 als "Verein MERKwürdig - Zeithistorisches Zentrum" im Vereinsregister eingetragen ist.
Bis Ende 2022 kümmerte sich der Verein um die Verwaltung, Pflege und Zugänglichmachung der KZ-Gedenkstätte Melk und die Entwicklung von Vermittlungsprogrammen für Schüler*innen und Erwachsene am historischen KZ-Gelände. Seit 2023 involviert sich die KZ-Gedenkstätte Mauthausen intensiver in Melk und das Zeithistorische Zentrum Melk arbeitet eng mit dieser zusammen. Die partnerschaftliche Kooperation zwischen Bundesanstalt Mauthausen und der überparteilichen NRO „MERKwürdig“ ist dabei in der österreichischen Gedenkstättenlandschaft beispielgebend.
Aktuell (Stand Jänner 2024) arbeiten zwei Mitarbeiterinnen in Teilzeit unterstützt von einem ehrenamtlichen, wissenschaftlichen Leiter im Zeithistorischen Zentrum Melk. Projektbezogen sind auch weitere Personen auf Werkvertragsbasis und zahlreiche ehrenamtliche Freund*innen im Team.
Als unsere Primäraufgabe sehen wir das Erinnern. Darunter verstehen wir, das Gedenken an die Opfer des KZ-Außenlagers Melk und an alle Menschen(gruppen) aus der Region, die in der NS-Zeit verfolgt oder ermordet wurden, wach zu halten. Ebenso interpretieren wir Erinnern – nach dem Zitat von Aleida Assmann – als „Arbeiten an der Zukunft“.
Wir bekennen uns:
- zur Gleichheit aller Menschen mit Berücksichtigung von Vielfalt, womit die Anerkennung und Wertschätzung der Einzigartigkeit jedes Menschen ebenso gemeint sind, wie die Wahrung der Würde, gleichberechtigter Teilhabe und gleicher Rechte für alle Menschen.
- zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen.
- zum Antifaschismus.
- zur Demokratie.
- zu unserer Situierung als NRO (Nichtregierungsorganisation) und in diesem Sinne zur Unabhängigkeit gegenüber staatlichen und parteipolitischen Interessen und Vereinnahmung sowie der Absage zu Gewinnorientierung.
- zu einer im Sinne der Frankfurter Erklärung kritisch-emanzipatorischen Politischen Bildung, die wir im Sinne unseres Bekenntnisses zu Demokratie auch so verstehen, dass dazu „die kritische Analyse der Gesellschaft“ gehört. „Emanzipatorische Bildung fördert das Denken in Alternativen … stärkt die Partizipation“ thematisiert und kritisiert Ungleichheitsverhältnisse und zeigt die historische Gewordenheit gesellschaftlicher Verhältnisse und somit ihre Veränderbarkeit auf.
- zu einem Verständnis von Wissenschaft, die als soziale Praxis verstanden, sich ihrer Situiertheit in diesen Verhältnissen bewusst ist und ihre Forschung unter der Reflexion dieses Umstandes und ethischer Gesichtspunkte durchführt.
- zum Mauthausenschwur der ehemaligen KZ-Häftlinge, der da lautet: „(…) solidarisch und im gemeinsamen Einverständnis, den weiteren Kampf gegen Imperialismus und nationale Verhetzung zu führen. So, wie die Welt durch die gemeinsame Anstrengung aller Völker von der Bedrohung durch die hitlerische Übermacht befreit wurde, so müssen wir diese erkämpfte Freiheit als das gemeinsame Gut aller Völker betrachten. (…) Wir werden einen gemeinsamen Weg beschreiten, den Weg der unteilbaren Freiheit aller Völker, den Weg der gegenseitigen Achtung, den Weg der Zusammenarbeit am großen Werk des Aufbauens einer neuen, für alle gerechten, freien Welt. (…) Auf den sicheren Grundlagen internationaler Gemeinschaft wollen wir das schönste Denkmal, (…) errichten: Die Welt des freien Menschen. Wir wenden uns an die ganze Welt mit dem Ruf: Helft uns bei dieser Arbeit! Es lebe die internationale Solidarität! Es lebe die Freiheit!“
Wir stehen aktiv und offensiv ein:
- für lebendiges Gedenken an alle Menschen, die in der NS-Zeit aus rassistischen Gründen, wegen ihrer Religion oder Weltsicht, politischen Einstellung, sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität, psychischen Erkrankung, Behinderung(en) oder ihres Lebensstils willkürlich vertrieben, verfolgt, gequält und/oder durch direkte oder strukturelle Gewalt ermordet wurden.
- für Respekt, Solidarität und soziale Gerechtigkeit.
- für Toleranz und Redefreiheit mit der Einschränkung, dass diese für uns dort enden, wo die direkte oder indirekte Abwertung von Menschen(gruppen) durch Meinungen und Handlungen intoleranter Menschen in Kauf genommen oder erzwungen wird. Wir orientieren uns dabei am „Toleranz-Paradoxon“ (Karl Popper) und gehen davon aus, dass die uneingeschränkte Toleranz zum Verschwinden der Toleranz führt, da durch sie intolerante Gruppen eine offene, tolerante Gesellschaft vernichten (können).
- gegen antidemokratische und faschistische Tendenzen.
- gegen alle Formen von (struktureller) Unterdrückung wie Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit, Kulturimperialismus und Gewalt.
- gegen alle Formen des „otherings“, worunter verstanden wird, dass sich „eine Gruppe … [innerhalb eines Machtgefälles] von einer anderen Gruppe abgrenzt, indem sie die nicht-eigene Gruppe als andersartig und fremd beschreibt.“
- gegen Diskriminierung auf struktureller, institutioneller, interaktiver und materieller Ebene in Form von Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Klassismus, Ableismus, Homo-, Bi-, Inter- und Transfeindlichkeit, Feindlichkeit gegenüber (bestimmten) Religionen und der intersektionalen Verwobenheit verschiedener Diskriminierungsformen.
Ein buntes Team aus Vorstand, Guides, Mitarbeiter*innen und ehrenamtlich tätigen Freund*innen mit unterschiedlichsten Zugängen, Persönlichkeiten und beruflichen Hintergründen sorgt für eine große Vielfalt in der Arbeit des Verein MERKwürdig – Zeithistorisches Zentrum. Einigkeit besteht in den oben genannten Punkten, wozu sich der Verein bekennt und wofür er einsteht.
Unsere Arbeit umfasst die Thematisierung der gesellschaftspolitischen Dimension der NS-Zeit und aktueller, politischer Ereignisse lokal, regional und (inter)national. Unsere Arbeit zeichnet sich durch die enge Verwobenheit mit dem Gedenken an die Opfer der NS-Zeit und dem Herstellen von Gegenwartsbezügen zu aktuellen politischen Ereignissen, die faschistische, antidemokratische und/oder diskriminierende Tendenzen oder Aspekte aufweisen, aus.
Sie umfasst:
- Gedenken an die Opfer des KZ-Außenlagers Melk (z. B. jährliche Gedenkfeier für die Opfer des KZ Melk) und Gedenken an alle Menschen(gruppen) aus der Region, die in der NS-Zeit verfolgt oder ermordet wurden (z. B. „Steine der Erinnerung“ für die vertriebene, jüdische Bevölkerung aus der Stadt Melk).
o Betreuung und Kontakt zu KZ-Überlebenden(verbänden) und internationalen Gedenkinstitutionen.
- wissenschaftliche Forschung (Recherche und Bearbeitung zeitgeschichtlicher und gesellschaftspolitischer Themen, insbesondere der Geschichte von NS-Verbrechen auf lokaler und regionaler Ebene sowie die Entwicklungsgeschichte des Gedenkens an die Opfer der NS-Verbrechen).
- Veranstaltungen mit Mitteln der Kunst (Konzerte, Filmvorführungen, uvm. Z. B. „12h Konzert wider Gewalt und Vergessen“)
- Public History
o Vermittlung von zeitgeschichtlichen, gesellschaftspolitischen Themen und das Aufgreifen aktueller, politischer Diskurse in Form von diskriminierungssensibler und diversitätsbewusster Bildungsarbeit und künstlerischer Beiträge rund um die Themen Zeitgeschichte, politischer Widerstand, Zivilcourage, sozialer Ungleichheit uvm. auf Social Media
o Veranstaltungen in Form von Vorträgen, Lesungen, uvm.
o Pädagogische Arbeit in Form von Konzeption und Durchführung öffentlicher (Themen-)rundgänge am Areal des ehemaligen KZ-Außenlagers Melk
- politische Bildung von Jugendlichen und Erwachsenen, indem wir auf Social Media, bei unseren Veranstaltungen und in unserer pädagogischen Arbeit Bildungsprozesse anzuregen versuchen und
o aufklären, wozu ausgrenzendes, abwertendes Gedankengut (am Beispiel der NS-Zeit) führen kann bzw. führt.
o sowohl zivilcouragiertes Handeln anregen und die persönlichen Handlungsspielräume der Einzelnen thematisieren,
o als auch kritisches Bewusstsein für die Wirkmächtigkeit von Strukturen, Institutionen und Macht- und Herrschaftsverhältnissen im Allgemeinen schaffen
- Kooperation mit lokalen und regionalen Organisationen wie z. B.
o der KZ-Gedenkstätte Mauthausen/Mauthausen Memorial
o dem Mauthausen Komitee Österreich (MKÖ)
o der Birago-Kaserne Melk
o dem Museum Erlauf Erinnert
- Das Ziel, das Gedenken an die Opfer der NS-Zeit lebendig zu erhalten.
- Das Ziel, u. a. zeithistorische Ereignisse in ihrer gesellschaftspolitischen Dimension und Wirkung im Heute reflexiv zu erforschen.
- Das Ziel Jugendliche und Erwachsene insofern politisch zu bilden, „dass Individuen die sozialen Verhältnisse, in die sie tagtäglich eingebunden sind, verstehen und die soziale Welt, die sie sich bildend erschließen, eingreifend und emanzipativ verändern können. Dahingehend macht [kritische politische Bildung] Widersprüche sichtbar, verdeutlicht Ursachen, Grundlagen und Auswirkungen von Entscheidungen sowie gesellschaftliche Zusammenhänge“. Es geht darum „unveränderliche Bedingungen menschlichen Handelns von solchen Bedingungen zu unterscheiden, die nur aus ideologischer, also verzerrter Perspektive als unveränderlich erscheinen, in Wirklichkeit aber verändert werden können.“
- Unser Ziel ist es einen Beitrag zu Mündigkeit in der Bevölkerung zu leisten und damit die „Aufhebung von Verdinglichung und Selbstentfremdung des Menschen“ ebenso wie die Befreiung aller Menschen aus Unterdrückungsverhältnissen voranzutreiben.
- Unser Ziel ist eine freie, demokratische Gesellschaft, in der die Gleichheit und Würde aller Menschen von allen Menschen, Institutionen und Strukturen geachtet und gelebt werden und ein gutes Leben für alle Menschen möglich ist.
Ein Text von Melanie Grubner für MERKwürdig – Zeithistorisches Zentrum Melk
Quellen
Frankfurter Erklärung (2015). Für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung. URL: https://uol.de/f/1/inst/sowi/ag/politische_bildung/Frankfurter_Erklaerung_aktualisiert27.07.15.pdf [zuletzt aufgerufen am 03.07.2023].
Ginner, Boris/Sandner, Günther (2021): Emanzipatorische Bildung – Eine Einleitung. In: Sandner, Günther/Ginner, Boris (Hg.): Emanzipatorische Bildung. Wege aus der sozialen Ungleichheit. Wien, Berlin: Mandelbaum Verlag.
Koller, Hans-Christoph (2017): Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Eine Einführung. 8., aktualisierte Auflage. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.
Lösch, Bettina (2013): Was heißt ‚kritische politische Bildung‘ heute? In: polis 2/2013, S. 11-14. URL: https://www.dvpb.de/wp-content/uploads/2015/03/de2f7a70742d9e5865e5186a8145a456.pdf [zuletzt aufgerufen am 07.05.2023].
Mollenhauer, Klaus (1970): Erziehung und Emanzipation. Polemische Skizzen. 4. Auflage. München: Juventa Verlag.
Website Diversity Arts Culture Berlin. URL: https://diversity-arts-culture.berlin/diversity-arts- culture/woerterbuch [zuletzt abgerufen am 07.06.2023].
Website Frankfurt Open Courseware. URL: https://foc.geomedienlabor.de/doku.php?id=courses:sus:crowdsourcing:material:m03-1#:~:text=Emanzipatorisches%20Erkennisinteresse%3A,und%20gesellschaftliche%20Manipulation%20werden%20abgelehnt. [zuletzt aufgerufen am 21.06.2023].
Website mkoe.at. URL: https://www.mkoe.at/gedenk-und-erinnerungsarbeit/mauthausen-schwur [zuletzt aufgerufen am 24.05.2023].
Young, Iris Marion (1996): Fünf Formen der Unterdrückung. In: Nagl-Docekal, Herta/Studer- Pauer, Herlinde (Hg.): Politische Theorie. Differenz und Lebensqualität. Frankfurt am Main: suhrkamp, S. 99-139.
Der Verein „MERKwürdig - Zeithistorisches Zentrum Melk" ist ein eingetragener, nicht auf Gewinn ausgerichteter, gemeinnütziger Verein (BH MELK, Vereinsregister - ZVR: 975413470).
MERKwürdig - Zeithistorisches Zentrum Melk
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